Gütersloh. Gütsel, Dalkestadt, Stadt im Grünen: Das sind bekannte Synonyme für Gütersloh. Und jetzt kommt Prof. Dr. Malte Thießen mit einem neuen, das erstmal stutzen lässt: „Boomtown“! „Ja“, bekräftigt der Historiker aus Münster, „Gütersloh ist tatsächlich eine Boomtown! Gütersloh hat seit 1945 eine in mehreren Punkten besondere Entwicklung hingelegt. Der Wandel von einer typisch westfälischen Kleinstadt zur Großstadt mit global agierenden Unternehmen innerhalb weniger Jahrzehnte ist außergewöhnlich.“ Und folgerichtig ist nun auch die Art der Aufarbeitung dieser Stadtgeschichte nach 1945 außergewöhnlich: Sie erfolgt als wissenschaftliches Forschungsprojekt mit viel Bürgerbeteiligung und soll 2025 als spannend zu lesender Band vorliegen.
Stadtjubiläum ist Anlass für zweiten Band
Der Ausschuss für Kultur und Weiterbildung hat am Montag (22.3.2021) mit seiner Zustimmung zum Haushalt 2021 des städtischen Fachbereichs Kultur grünes Licht für die Umsetzung des bemerkenswerten Projekts gegeben. „Der Anlass dafür, die Geschichte der Stadt Gütersloh in einem zweiten Band fortzuschreiben, ist, dass Gütersloh im Jahr 2025 seit 200 Jahren die Stadtrechte besitzt“, erläutert Kulturdezernent Andreas Kimpel. „Dieses markante Jubiläum mit einer historischen Wegmarke bietet die Möglichkeit für die Stadt Gütersloh, sich der eigenen Geschichte zu stellen und diese in allen Facetten fachwissenschaftlich fundiert aufzuarbeiten. Zudem erscheint ein Lernen aus der eigenen Geschichte aktuell wichtiger denn je, nicht zuletzt angesichts der Zunahme von Populismus und des Rechtsrucks in unserer Gesellschaft.“ Und, so betont Andreas Kimpel: „Die Geschichte der Stadt ist zugleich eine Geschichte ihrer Bürgerinnen und Bürger!“ Und genau deshalb werden sie bald aufgerufen, sich mit einzubringen in das Projekt.
„Gütersloh nimmt damit eine Vorreiter-Rolle ein“
Beim LWL-Institut für westfälische Regionalgeschichte in Münster und beim Forschungsinstitut für Zeitgeschichte in Hamburg jedenfalls brennt man darauf loszulegen – man wird im Auftrag der Stadt gemeinsam arbeiten. „Wir sind Feuer und Flamme für dieses Projekt“, freut sich Malte Thießen, Leiter des LWL-Instituts. „Gütersloh nimmt damit eine Vorreiter-Rolle ein.“ Denn: Thießen ist keine Stadt in Deutschland bekannt, die ihre Geschichte seit 1945 bis ins 21. Jahrhundert hinein systematisch wissenschaftlich aufgearbeitet und publiziert hätte. „Die jüngere und jüngste Vergangenheit ist traditionell eher nicht im Blick von Historikern“, sagt der 46-Jährige. Die Quellenlage ist dünn – über die gerade erst zurückliegenden drei, vier Jahrzehnte gibt es kaum Material in Archiven und Museen.
Bürgerbeteiligung und der Austausch mit Zeitzeugen
Das stellt auch das Team der beiden Institute nun in Gütersloh vor Herausforderungen. Umso wichtiger sind daher die Bürgerbeteiligung und der Austausch mit Zeitzeugen. Ein fester Bestandteil des Forschungsprojekts werden öffentliche Veranstaltungen wie Erzählcafés und Geschichtswerkstätten sein – Formate, die der städtische Fachbereich Kultur bereits erfolgreich etabliert hat und sowohl digital wie analog anbietet. „Auch in diesem Punkt leisten wir zusammen mit der Stadt Pionierarbeit“, betont Prof. Malte Thießen. „Einerseits dient der Austausch mit den Gütersloherinnen und Güterslohern dazu, sie über unsere Arbeit und die Erkenntnisse, die wir gewonnen haben, auf dem Laufenden zu halten. Und andererseits brauchen wir das Gespräch, um Konkretes aus der jüngeren lokalen Vergangenheit zu erfahren. Daraus können sich Themenfelder ergeben, die wir sonst gar nicht auf dem Schirm hätten. Nur so können wir Gesellschaftsgeschichte schreiben!“ Lena Jeckel, Leiterin des Fachbereichs Kultur, in dem die Fortschreibung der Stadtgeschichte angesiedelt ist, bekräftigt: „Unser gemeinsames Ziel ist eine möglichst breite Überlieferung der Stadtgeschichte. Viele Menschen können zu diesem Projekt ein Stück beitragen und ich bin auch überzeugt, dass viele mitmachen möchten. Wir machen gerade jetzt in der Pandemie-Zeit die Erfahrung, dass Angebote und Beteiligungsformate sehr gut angenommen werden. Es besteht ein großes Interesse an Mitwirkung.“
Drei Themenschwerpunkte für das Projekt
Die beauftragten Historiker haben für das Projekt drei Themenschwerpunkte ausgemacht, die widerspiegeln, was Gütersloh seit Ende des Zweiten Weltkriegs geprägt hat: Unternehmen in Gütersloh; Die Stadt in Bewegung – Wandel sozialer Milieus und Kulturwandel; Die Briten in Gütersloh. Mit den Vorrecherchen wurde bereits begonnen, erste Kontakte zu Stadtarchiv und Stadtmuseum sind erfolgt. Im Sommer soll ein Überblick über die Archivlage vorliegen, im Herbst dann der offizielle Startschuss fallen. Für 2022 ist eine Tagung von Historikern, die an der jüngeren Stadtgeschichte arbeiten, in Gütersloh geplant. Thießen: „Auch dadurch erhoffen wir uns Erkenntnisse, warum – das ist ja unsere These – Gütersloh in seiner Stadtentwicklung besonders ist.“ Besonders zum Beispiel deshalb, weil sich Gütersloh durch einen, so der Historiker, „bemerkenswert erfolgreichen“ Strukturwandel nach dem Zweiten Weltkrieg auszeichnet. „Global Player haben in kurzer Zeit eine Wirtschaftslandschaft entstehen lassen, die ohne Beispiel ist. Digitale Prozesse sind in der Stadt unheimlich früh angestoßen worden und sind weit fortgeschritten“, verweist Thießen, der zur Geschichte der Digitalisierung von 1960 bis heute geforscht hat, auf Unternehmen wie etwa Bertelsmann und Miele, die in unterschiedlichen Branchen zu Weltfirmen wurden und den Wirtschaftsstandort Gütersloh bis heute prägen. „Mir fällt keine andere Stadt ein, wo das so verdichtet ist.“ Auf das Forscherteam wartet in jedem Fall eine spannende Forschungsreise in die vergangenen acht Jahrzehnte Gütersloher Geschichte.
Hintergrund
Der erste Band zur Gütersloher Stadtgeschichte erschien anlässlich der 175-jährigen Stadtrechte im Jahr 2001. Er beinhaltet einen Überblick über die Zeit bis zum Ende des Zweiten Weltkriegs. Die nun in Auftrag gegebene Fortschreibung der Stadtgeschichte in einem zweiten Band soll im Jahr 2025 beendet sein, wenn Gütersloh 200 Jahre Stadtrechte feiert. Mit der Umsetzung sind das LWL-Institut für westfälische Regionalgeschichte in Münster (Prof. Dr. Malte Thießen) und die Forschungsstelle für Zeitgeschichte in Hamburg (Prof. Dr. Thomas Großbölting) beauftragt.
Die Stadt finanziert das Projekt mit insgesamt rund 600.000 Euro über fünf Jahre im Zeitraum 2021 bis 2025. Vorgesehen ist, zusätzlich Fördermittel einzuwerben. Weitere zusammen rund 285.000 Euro bringen die beiden Forschungsinstitute in das Projekt ein, vor allem für Personalkosten.