Look! Enthüllungen zu Kunst und Fashion

Künstlerische Beiträge aus 20 Jahren

Herford. Mode war schon immer ein raffiniertes Spiel zwischen gesellschaftlichen Normen und individuellem Ausdruckswillen. Aber welchen Stellenwert besitzt sie heute angesichts enormer Beschleunigung, globaler Produktionsstrukturen und digitaler Selbstdarstellung? Mit künstlerischen Beiträgen der letzten 20 Jahre entwirft die groß angelegte Themenausstellung „Look! Enthüllungen zu Kunst und Fashion“ (04.09.21 – 06.03.22) ein lebhaftes Panorama aktueller Phänomene in der Modewelt. Im Zentrum stehen dabei nicht künstlerisch inspirierte Modeschöpfungen, sondern die kritische Befragung der Fashionwelt und ihrer Funktionszusammenhänge.

„Die Künstler*innen produzieren keine ‚Waren‘, sondern Ideen, Situationen und Statements, mit denen sie kritisch Stellung beziehen zu den vielfältigen Auffassungen von der zeitgenössischen Mode, ihren Wertesystemen und den sozialen Geflechten, die daraus hervorgehen.“ (Dobrila Denegri)

© Marta Herford, Foto: Felix Hüffelmann

© Marta Herford, Foto: Felix Hüffelmann

Anhand von rund 90 Fotografien, Malereien, Videos, Skulpturen und Installationen präsentiert die Gruppenausstellung den hochaktuellen Blick zeitgenössischer Künstler*innen, die das politische Potenzial von Fashion ausloten, unterschiedliche Identitätsentwürfe vorstellen und dadurch Vielfalt als etwas Positives erlebbar machen. Mode präsentiert sich hier als ein globales System, das nahezu alle betrifft und offenlegt, nach welchen Strukturen die Welt heute funktioniert. Die Marta-Schau eröffnet eine faszinierende Expedition in den gesellschaftlichen Alltag und präsentiert Mode als schillernde Erzählung über unsere komplexe Gegenwart.

Gleich zu Beginn der Gehry-Galerien werden die Besuchenden von einer farbenprächtigen Traumlandschaft in Empfang genommen. Die Künstlerin Hrafnhildur Arnardóttir, die auch als Shoplifter bekannt ist, lässt in ihrer Installation „Fathoms II“ synthetisches Haar wie Lianen von der Decke hängen und erschafft so ein dschungelartiges Dickicht, das dazu einlädt, sich im bunten Treiben zu verlieren.

Neben außergewöhnlichen Materialerfahrungen gehört auch die Frage nach Produktionsbedingungen von Mode zum inhaltlichen Spektrum der Ausstellung. Der Film „15 Hours“ von Wang Bing gewährt Einblick in die prekären Arbeits- und Lebensverhältnisse chinesischer Näher*innen, die in 15-Stunden-Schichten im Akkord Kleidungsstücke fertigen. Die Handlung folgt keinem Drehbuch, sondern wird allein durch die Arbeitstaktung vorgegeben. Vom Morgengrauen bis zur nächtlichen Dunkelheit folgt der Künstler den Arbeiter*innen 15 Stunden lang als empathischer Beobachter. Statt harsche Kritik zu üben, bietet der Film die Möglichkeit einer stillen Teilhabe, die es den Betrachtenden erlaubt, Verbindungen zur eigenen Lebenswirklichkeit herzustellen.

Einen weiteren Aspekt bilden die in der Modeindustrie zunehmend geführten Diskussionen rund um die Überwindung körperlicher Normen, die unter anderem im Werk von Mari Katayama aufgegriffen werden. In ihren Fotografien steht die Künstlerin, die selbst auch als Model tätig ist, meist im Zentrum ihrer eigenen Kreationen. Indem sie ihre ungewöhnlichen Prothesen und Körpererweiterungen in den Fokus rückt, bricht sie bewusst mit gängigen Schönheitsidealen. Ihr „High Heel Project“ ist ein grundsätzliches Plädoyer für mehr Freiheit, etwa bei der Wahl der Schuhe von Menschen mit Beinprothesen.

Die Frage nach Identität und Selbstdarstellung ist längst nicht mehr nur mit dem analogen Körper verbunden, sondern auch mit seiner digitalen Präsenz. In ihrer Serie „Phantom Muses“ führt Christiane Peschek die digitale Reproduktion stereotyper Schönheitsstandards ins Absurde. Die Grundlage ihrer Werke bilden Selfies, die sie mit Instagram-Filtern bis zu Unkenntlichkeit bearbeitet. Gedruckt sind die Bilder auf Fleece und Seide, die mit ihrer weichen Oberfläche den unwirklichen Eindruck verstärken. Im Kontext immer neuer Möglichkeiten der Selbstinszenierung stellt sich hier die Frage, wie sich unsere (Selbst-)Wahrnehmung künftig wandelt.

Auch im Bereich der Materialforschung entstehen zunehmend Visionen einer Zukunft, in der Technologien und der menschliche Körper zu einer Einheit verschmelzen. Stoffe werden zu einer zweiten Haut aus Hightechfasern und dienen der Regulierung, Unterstützung und Erweiterung von Körperfunktionen. Wie derartige Kleidung aussehen könnte, zeigt Sonja Bäumels Werk „Crocheted Membrane“: An den Körperstellen, an denen weniger Wärme notwendig ist, öffnet sich die Häkelstruktur aus Mohairwolle und verdichtet sich dort, wo Wärme nötig ist. Im Gestaltungsprozess lässt die Künstlerin Wissenschaft und Mode ein symbiotisches Miteinander eingehen.

In Erwin Wurms „Metrum“ werden die Besucher*innen mithilfe von Turnschuhen selbst zum Kunstwerk. Eine kleine Zeichnung verrät, wie man sich damit zu positionieren hat: Einen Schuh in die Armbeuge, den anderen zwischen die Knie geklemmt, gilt es als „One-Minute Sculpture“ 60 Sekunden lang auszuharren. Nicht nur das Schuhwerk wird seiner ursprünglichen Funktion beraubt, auch die eigene Rolle verändert sich vom Betrachtenden zum Handelnden.

Neben den Werken von rund 30 internationalen Künstler*innen umfasst die Ausstellung im Marta Herford auch eine zweite Erzählebene, die Informationen zu aktuellen Entwicklungen der Fashionwelt bietet: Nachhaltigkeit, innovative Materialien, zukunftsweisende Technologien, digitale Mode und Fashion-Avatare, Schönheitsideale und Geschlechterklischees sind nur einige Themen davon. Aktivierende Fragen animieren die Besucher*innen zudem, die eigene Haltung kritisch zu hinterfragen und damit Spuren im Museum zu hinterlassen.

Auf der „Insel im Marta“, einem museumspädagogischen Ort der Begegnung und kreativen Erforschung mitten im Museum, gibt es Gelegenheit, selbst aktiv zu werden. Für die Ausstellung hat der Künstler Adrien Tirtiaux den Raum in eine Werkstatt verwandelt, in der man auch im Austausch mit Kunstvermittler*innen Materialerfahrungen sammeln und mit Stoffen experimentieren kann.

Erstmalig wird es in den Ausstellungsgalerien einen zusätzlichen Info-Point geben. Der „Kiosk“ im Marta-Dom ist ein Ort der Information und Kommunikation, an dem ein*e Kunstvermittler*in am Wochenende für Fragen und Gespräche zur Verfügung steht, aber auch technische Hilfestellungen anbietet. Neben der Publikation erhalten die Besuchenden dort auch eine kostenfreie Broschüre in Leichter Sprache, die einen besonders niedrigschwelligen Zugang zu ausgewählten Werken ermöglicht.

Maßgeblich für die Ausstellung im Marta Herford ist neben der gesellschaftlichen Aktualität der Thematik auch die regionale Bedeutung von Mode. Umso mehr freuen wir uns, dass die drei großen Herforder Textilunternehmen Ahlers, Brax und Bugatti das Ausstellungsprojekt als Sponsoren finanziell unterstützen. Dafür möchten wir uns herzlich bedanken!

Ergänzend zeigt die Stiftung Ahlers Pro Arte die Ausstellung „Fetische des Blicks“ (11.09.21 – 16.01.22), die weitere Facetten dieses vielschichtigen Themas beleuchtet.