Eine künstlerische Ansicht für Bielefeld

Schauraum-Ausstellung von Aatifi zum ursprünglichen Nachtansichten-Termin

Bielefeld. Die Welt steht auch in Bielefeld seit Wochen still, die Erde dreht sich weiter – der Künstler Aatifi nutzt die seltsame Ruhe der Corona-Pandemie, um in seinem Atelier mitten in der Stadt intensiv zu malen. Den ursprünglichen Plan, zum gewohnten Termin der Bielefelder Nachtansichten am Samstag, 25. April 2020 im Hinterhof der Ravensberger Straße neue Werke zu präsentieren, hat er unbeirrt weiterverfolgt. Jetzt hat er unter dem Titel „Ansicht“ eine Ausstellung mit neuen Arbeiten konzipiert und gehängt, „so wie sie mir gefällt“. Derzeit einziger Betrachter im Schauraum des Ateliers Aatifi: der Künstler selbst.

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Schauraum-Ausstellung von Aatifi zum ursprünglichen Nachtansichten-TerminFoto: Martina Bauer

„Es ist wie im normalen Atelieralltag, meine Malsituation hat das wenig beeinflusst, ich arbeite wie vorher regelmäßig weiter“, beschreibt der Bielefelder Maler und Druckgrafiker seine Lage seit Februar, März. Im Schauraum war für April die Ausstellung „Abstrakt – Aatifi und Mark Tobey“ vorgesehen: Papierarbeiten des US-amerikanischen Künstlers (1890-1976), der Kalligrafie und Malerei in Japan studierte und zuletzt in Basel (Schweiz) lebte, sollten neuen Werken von Aatifi gegenübergestellt werden. „Ich wollte die ganze Ausstellung nicht einfach ausfallen lassen, wollte nicht, dass Bielefeld keine neuen Bilder sieht“, begründet der Bielefelder Künstler sein Engagement. Das Corona-Virus betrachtet er sachlich-distanziert, mit Respekt: „In der Geschichte gab es mehrere Male solche Epidemien, die vielen Menschen das Leben genommen haben. Die Menschheit hat es immer wieder überstanden. Jetzt wird sie es erst recht überstehen, weil die Menschen weit erfahrener sind als früher“.

Ausstellung mit acht neuen Malereien

Aatifi, der seit zwei Jahrzehnten von seinem Bielefelder Atelier aus bundesweit und international agiert, hat durch die Corona-Pandemie mehr Zeit für sein eigentliches künstlerisches Schaffen. Mehrere Ausstellungen und Projekte sind ausgefallen oder verschoben worden. Der sonstige Termindruck durch Abgaben, Transporte und Eröffnungen entfällt momentan. Seit Wochen arbeitet er zurückgezogen im Atelier, inspiriert vom blauen Himmel und dem hellen Sonnenlicht des Frühlings. Entstanden ist unter diesen Eindrücken eine neue Malerei-Reihe mit dem Titel „Ansicht“ in Formaten zwischen 110 mal 120 und 120 mal 150 Zentimetern, in denen sich die Tiefen des Universums wie die menschliche Sehnsucht nach Schönheit widerzuspiegeln scheinen. Wiedererkennbare Merkmale seiner abstrakt-skripturalen Kunst sind auch hier die geheimnisvollen Linien und Formen, Bilder voller Kraft und Dynamik, Tiefe und Raum.

Aus den acht Arbeiten auf Leinwand hebt sich besonders markant eine Malerei in undurchdringlichem Violett auf der einen Seite der Bilddiagonale und Gelb- und Orange-Tönen um strahlendes Weiß auf der gegenüber liegenden Seite ab. „Sie besteht aus 20, 25 Farbschichten, ich habe sie in aller Ruhe fertiggestellt, aber eigentlich ist es egal, ob ein Bild schnell oder langsam gemalt ist“, erklärt Aatifi, „die Kunst hat eine bestimmte Energie, die in ein Zeitquantum gepresst wird – man muss sich sammeln und dann fließt alles in das Bild ein, die Persönlichkeit und Menschlichkeit.“

Geprägt ist die Malerei von einer zweifach geschwungenen, tief dunkelblauen Linie und einer über allem schwebenden weißgrundigen Form mit hunderten kleiner Farbtupfer. Das Querformat von 110 mal 120 Zentimetern mutet aufgrund der zentrierten, geschichteten Formen quadratisch an, zieht den Blick des Betrachters in die vermeintlich unendlichen Tiefen des Bildraumes. „Für mich ist es ein Blick in den Kosmos“, sagt der Künstler, „ein Blick auf das Entstehen und Vergehen von Sternen, auf die Vergangenheit und die Zukunft.“ Entsprechend scheint sich die zentrale Form, einem Ausschnitt des Atelierbodens gleich, aus unendlich vielen (Farb-)Partikeln auf weißem Grund zusammenzusetzen – oder eher aufzulösen in den unterschiedlichen Violett- und Blau-Abstufungen des Bildes? Die mystisch wirkende Malerei ,,zieht den Blick und die Aufmerksamkeit des Betrachters an und wirft tausende Gedanken zurück – und eine große Ruhe“, beschreibt es der Maler selbst, „es stellt den Anfang einer neuen Art zu Malen dar, die meine Bilder in den nächsten Jahren prägen wird“.

Besichtigung ausschließlich im Internet

Neben einer weiteren, farbig-eruptiven Malerei mit einer markant geschwungenen, tiefblauen Linie im Format 120 mal 150 Zentimeter sind die anderen Arbeiten in Acryl auf Leinwand überwiegend in konstrastreichen Abstufungen von Hell- bis Dunkelblau gehalten, die von weißen Formen und Flächen ergänzt werden. Die aktuelle Ausstellung steht nur dem Künstler selbst offen: „Ich bin der einzige Besucher jeden Tag, zuerst statte ich meinen neuen Arbeiten, meinen Malereien einen Besuch ab. Danach widme ich mich wieder meinem Arbeitsprozess im Atelier“. Da die Schau unter Ausschluss der Öffentlichkeit stehen muss, vermisst Aatifi die Rückmeldungen aller Art, die er sonst von seinen Galeristen, Käufern und Sammlern, Besucherinnen und Besuchern erhält. „Zur Zeit sind meine einzigen und kritischen Betrachter mein Bruder Ahmad Khan in Toronto, Kanada und mein Bruder Abdul Naser in Melbourne, Australien, denen ich Abbildungen geschickt habe“, sagt Aatifi.

Das wird sich hoffentlich in absehbarer Zeit wieder ändern, genauso wie die Situation für die gesamte Kunst- und Kulturszene. Die für die Bielefelder Nachtansichten geplante Schau „Abstrakt – Aatifi und Mark Tobey“ wird voraussichtlich im August 2020 nachgeholt. Die derzeitige Ausstellung im Schauraum sowie filmische Impressionen aus dem Atelier Aatifi sind auf der Internetseite des Künstlers und unter Instagram bei Galerie Von und Von zu besichtigen.

www.aatifi.de

https://www.instagram.com/galerievonundvon/

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