Videotheken verschwinden, Bäckerfilialen werden bleiben

Detmold. Weniger Fett, weniger Zucker, weniger Salz – dann doch gleich ein am Automaten speziell auf die Bedürfnisse meines Körpers abgestimmtes Super-Getränk verzehren. Genuss? Wurscht! Hauptsache versorgt und das in fünf Minuten. Diesen Trend gibt es. In Metropolen wie Berlin zum Beispiel oder bei den unter Extremdruck arbeitenden Entwicklern im Silicon Valley. Was Lebensmittelproduzenten daraus lernen? Neue Geschäftsmodelle mit neuen Nischenprodukten zu finden. Aber, so bestätigten sich Ernährungswissenschaftler, Lebensmitteltechnologen, Studenten und Manager am 13. und 14. November bei der 69. Tagung für Bäckereitechnologie in Detmold, auf der anderen Seite stehen nach wie vor die sich auf natürliche, regionale und einfach leckere Produkte besinnenden Verbraucher. Für sie und die Hersteller ist die Digitalisierung vor allem eines: ein wertvolles Hilfsmittel.

Videotheken verschwinden, Bäckerfilialen werden bleiben

Videotheken verschwinden, Bäckerfilialen werden bleiben

„Sie können alles digitalisieren, beim Essen hört’s auf“, sagte der ehemalige Journalist Christoph Minhoff auf der Tagung der Arbeitsgemeinschaft Getreideforschung (AGF). Der Zuhörer ist gleich ein wenig erleichtert. Verbildlicht der Satz doch, was wir Menschen eigentlich alle hoffen: die Digitalisierung verändert Vieles; aber sie hat ihre Grenzen. Minhoff hielt den Impulsvortrag der Fachtagung als Hauptgeschäftsführer des Bundes für Lebensmittelrecht und Lebensmittelkunde e.V. sowie des Dachverbandes Bundesvereinigung der Deutschen Ernährungsindustrie e.V. in Detmold über die digitale „Zeitenwende“. Ihm und den anderen Rednern der Konferenz hörten rund 260 Gäste aus ganz Deutschland zu.

Genuss als Gesundheitsfaktor

Bei der Wucht der Veränderungen sei es, so Minhoff, auch für Lebensmittelunternehmen und Bäckereibetriebe wichtig, auf der Höhe der Zeit zu bleiben, risikobereit zu denken und den digitalen Wandel aktiv zu steuern – damit weiterhin „die Menschen im Mittelpunkt stehen.“ Bei einer wachsenden und alternden Bevölkerung und damit einhergehender Verknappung der Lebensmittel geht es ihm daher vor allem darum, nachhaltig zu produzieren, Ressourcen zu schonen und Menschen zu ernähren und das möglichst gesund. Einsetzen will er sich für weniger Eingriffe in Rezepturen und mehr Genuss und Freude am Leben. „Auch das sind Gesundheitsfaktoren. Dafür sollten wir kämpfen.“

Trinken statt essen?

Was gesund ist und was nicht, ist in vielen Fällen klar, in anderen streiten sich sogar Experten. Der Verbraucher isst ohnehin, was er will, beziehungsweise, was er oder sie für gesund hält. Das können im Extremfall auch angerührte Drinks sein, die dem Körper alle wichtigen Nährstoffe in nur wenigen Minuten zuführen. „Manche Entwickler zum Beispiel kaufen so etwas gern, trinken es, sind damit nach fünf Minuten durch und können weiterarbeiten“, schilderte Bastian Halecker, Start-up-Unternehmer aus Berlin den neuen Trend zum „Meal Replacement“. Ernährung ist für ihn ein sicheres Geschäft: „Die Zukunft der Branche ist sicher, nur der Endkunde verändert sich. Videotheken verschwinden durch die Digitalisierung. Bäckereifilialen aber werden bleiben. Gegessen wird eben immer.“ Der Professor an der Beuth Hochschule für Technik vermittelt zwischen Start-ups und etablierten Unternehmen, um neue Geschäftsmodelle rund um „Food Tech“ zu entwickeln. Dabei gehe es darum, neue Kategorien von Bedürfnissen zu finden – „also ein Problem bei den Verbrauchern auszumachen“, nennt es Halecker – und die passende Lösung anzubieten. Immer öfter ersetzen beispielsweise schon heute Apps den klassischen Ernährungsberater. Haleckers Rat an alle: „Handeln Sie nach dem 70-20-10-Prinzip!“ 70 Prozent der eigenen Arbeit solle man demnach in Ausbau und Sicherung des Kerngeschäfts stecken, 20 Prozent in neue Wege und Arbeitsmethoden am Rande des eigenen Geschäfts und 10 Prozent in etwas komplett Neues.

Die richtige Ernährung für jeden Einzelnen

Michael Gusko aus Hamburg geht sogar noch weiter: basiert auf Stuhlproben, Blutbildern oder Gentests liege die Zukunft und eine „längst überfällige“ Revolution in der personalisierten Ernährung. Gusko arbeitet als Geschäftsführer der GoodMills Innovation GmbH in Hamburg, einem Veredler von Getreiderohstoffen. Die Frage müsse also nicht mehr lauten: „Was ist die richtige Ernährung für den Menschen? Sondern: Was ist die richtige Ernährung für mich?“. Nestlé habe in Japan bereits ein Programm auf den Markt gebracht, das wahlweise auf einer DNA- oder Blutuntersuchung basiert, und die Teilnehmer, darauf abgestimmt, mit Tee-, Vitamin- oder Smoothie-Kapseln versorgt. Das ist nicht nur schnell, sondern verbindet auch persönliche Gesundheit mit einem – zumindest partiellen – Genuss. 

Verkostung per Knopfdruck

Nah am Alltag der Filialen waren die Vorträge zu digitalen Hilfsmitteln für das Bäckerhandwerk: Martin Müller etwa vermarktet die Sensorik-Software SensoTaste, die die notwendige und bislang analoge Verkostung digitalisieren kann und automatische Berichte erstellt. Anke Samuelson erklärte die wichtige Verkaufsfunktion eines digitalen Kassensystems in einer Filiale. Eine moderne Kasse sei wichtiges Informationsmittel und damit Basis für guten Kundenservice und könne zudem viele andere Prozesse unterstützen, wie etwa Zeiterfassung, Kundenbestellungen, Wareneingang oder Inventuren. Digitale Prognoselösungen, wie von Marc Huber von Operational Analytics präsentiert, sollen Filialmitarbeitern helfen, die Waren präzise auf den Bedarf abgestimmt zu bestellen und so Backwarenverluste zu reduzieren. Huber: „Allein durch Retouren entstehen in Deutschland im Jahr circa 600.000 Tonnen Backwarenverluste.“

Dinkel und Acrylamid – alles bleibt, wie es ist

Abseits der bahnbrechenden Trends und digitalen Zukunftsthemen hielten auch andere Redner Wissenswertes für die Zuhörer bereit: So sorgt eine Bekanntmachung der Europäischen Kommission beim Bäcker wie beim Verbraucher für Verwirrung und Unsicherheit. Danach solle in der Zutatenkennzeichnung von Dinkel stets dessen Eigenschaft als Weizenart erwähnt werden. Rechtsanwalt Alexander Meyer-Kretschmer und Geschäftsführer des Verbands Deutscher Großbäckereien kann die Anordnung nicht nachvollziehen und stellte klar: Sie ist rechtlich nicht verbindlich. Vorerst reiche eine reine „Dinkel“-Kennzeichnung. Den Dialog mit der EU-Kommission gelte es abzuwarten. Ähnlich verhält es sich beim Thema Acrylamid. Hier hat die EU-Kommission Richtwerte für bestimmte Backwaren vorgegeben. Erstens handele es sich dabei nicht, wie vielfach angenommen, um Grenzwerte, so Meyer- Kretschmer. Und zweitens ist klar: Für viele Spezialbrote wie Zwiebelbrot oder Oliven-Ciabatte fehlen noch Analysedaten. „So lange die Daten nicht vorliegen, gelten für diese Backwaren überhaupt keine Acrylamid-Richtwerte.“

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