Unterricht auf Distanz – Ein Lehrer über Schule in Corona-Zeiten

Von Sina Hälbig

Enger. Durch die Corona-Pandemie hat sich für Schüler- und Schülerinnen und vor allem auch für die Lehrer der Schulalltag komplett verändert. Der Unterricht findet nur noch online statt – eine große Umstellung für alle. . Christian Macke, Lehrer für die Fächer Deutsch und Geschichte, Beratungslehrer, Oberstufenkoordinator und Medien- und Internetscout des Widukind-Gymnasiums in Enger, hat in einem Interview mit dem OWL-Journal von seinen Erfahrungen mit der aktuellen Situation erzählt.

Welche Herausforderungen erleben Sie gerade in Sachen Unterricht auf Distanz?

Macke

Unterricht auf Distanz – Ein Lehrer über Schule in Corona-Zeiten. Christian Macke, Lehrer für die Fächer Deutsch und Geschichte, Beratungslehrer, Oberstufenkoordinator und Medien- und Internetscout des Widukind-Gymnasiums in Enger,Foto:Privat

„Da gibt es mehrere Sachen. Zum einen, dass es von der Politik und auch von vielen anderen Seiten eine fehlende Wertschätzung für alle Lehrer und Lehrerinnen, Schüler und Schülerinnen und auch für Eltern gibt, obwohl sie tolle Ergebnisse leisten und ganz viel Arbeit mitreinstecken. Die Politiker bezeichnen die momentane Situation als Schulausfall und das stimmt meiner Meinung nach nicht. Das Distanzlernen ist ein fester Bestandteil des Lernens und auch nicht mit Homeschooling zu vergleichen. Man muss auch sagen, dass an vielen Stellen die Ergebnisse und die Arbeitsmöglichkeiten zuhause viel besser sind als in der Schule. Man kann viel individueller arbeiten, ein besseres Feedback geben und genauer auf die einzelnen Schüler und Schülerinnen eingehen.

Dazu kommt noch die Technik als große Herausforderung. Wir haben bei uns an der Schule ein Lernmanagementsystem namens IServ eingeführt. Leider hapert es da ein wenig an der Stabilität. Der Server steht zwar bei uns in der Schule, aber die Leitungen sind einfach zu schwach. Das ist ärgerlich und behindert natürlich einen guten Workflow. Dann ist im Bereich Technik die Kompetenz auch nicht bei allen Lehrkräften und bei allen Schülern gleichermaßen vorhanden. Es fehlt an vielen Stellen die Fortbildung und auch die Anwendung und Zeit, um gewisse Kompetenzen zu erreichen.

Dazu kommt noch die Elternsicht als Herausforderung, da der Distanzunterricht oft mit Videokonferenzen gleichgesetzt wird. Ein Unterricht auf Distanz kann und sollte vor allem nicht eins zu eins durch eine Videokonferenz ersetzt werden. Dasselbe gilt für den Präsenzunterricht. Deshalb muss man hier andere pädagogisch-didaktische Modelle anwenden, die eingeübt werden müssen und für die Expertenteams nötig sind.

Das größte Problem ist das, was in der nächsten Zeit ansteht, nämlich der Wechselunterricht. Im Prinzip ist der Wechselunterricht das für alle Beteiligten ungünstigste Modell. Das günstigste Modell ist natürlich der Präsenzunterricht das ist klar, aber wenn das nicht geht, ist der reine Distanzunterricht vorzuziehen. Der reine Wechselunterricht ist eine höhere Belastung für alle Lehrkräfte, für die Schüler ist es auch oft nicht das Beste.

Zuletzt kommen noch die Inhalte. Jetzt mal auf meine Fächer Deutsch und Geschichte bezogen. Geschichte ist überhaupt kein Problem. Man kann sehr vielseitig, inhaltsbezogen und individuell arbeiten. In Deutsch ist das manchmal ein bisschen anders, zum Beispiel wenn man eine neue Lektüre einführt. Da lebt vieles vom gemeinsamen Arbeiten, das ist natürlich über Distanz alles ein bisschen schwierig.“

Wie bleiben Sie momentan mit Schülern in Kontakt?

„Über unser neues Lernmanagementsystem IServ. Das verfügt über einen Messenger, man kann sehr gut mit Mails arbeiten und man hält natürlich Videokonferenzen. Diese sollen in erster Linie nicht den Präsenzunterricht eins zu eins ersetzen, sondern haben eher eine kommunikative und pädagogische Funktion. Wir fangen in der Sekundarstufe 1 morgens mit einem einheitlichen Start an. In einzelnen Situationen muss man natürlich auch mal zum Telefon greifen. Ansonsten versuchen wir ganz viel über Evaluation zu machen, Feedback zu geben und so weiter.“

Haben Sie das Gefühl, dass die digitale Infrastruktur an Ihrer Schule ausreicht?

„Ich muss sagen, da hat die Stadt Enger eine ganze Menge getan. Wir arbeiten schon sehr lange an dem Projekt „Gute Schule 2020“. In dem ersten Lockdown ist eine Menge aufgestockt worden. Wir haben inzwischen in jedem Klassenraum digitale Smartboards und jeder Lehrer hat ein eigenes IPad für den Unterrichtskontext. Wir streben eine eins zu eins Ausstattung in den Jahrgängen 9 und EF an. In der EF ist das schon in die Wege geleitet worden und wird jetzt Anfang März umgesetzt. Große Probleme bereitet nach wie vor ein flächendeckendes WLAN in der Schule, in der ausreichenden Kapazität. Auch die Internetverbindungen außerhalb oder zur Schule sind sehr knapp bemessen, also brauchen wir auch da auf jeden Fall noch eine Aufstockung.“

Was ist Ihre größte Sorge im Augenblick?

„Da gibt es drei. Zum einen auf Seiten der Schüler beziehungsweise der Familien. Es gibt da einige sehr belastete Familien und Kinder. Ich habe zum Beispiel eine Schülerin, die viele jüngere Geschwister hat und sich momentan um sie kümmern muss und sich um ihre eigenen schulischen Sachen, zum Beispiel auch im Hinblick aufs Abitur, kaum beschäftigen kann und dann auch erst spät abends anfangen kann, da ihre Eltern berufstätig sind. Das ist ein Problem, da die Eltern die Kinder auch nicht in die Notbetreuung schicken wollen, die wir anbieten, weil sie Angst haben, dass sie sich anstecken könnten.

Auf der Seite der Lehrer und Lehrerinnen habe ich die Befürchtung, dass mit diesen steigenden Anforderungen die Nähe zum Burnout oder zu Überlastungen wahnsinnig steigt. Ich glaube da müsste von Seiten des Ministeriums schnell für Entlastung gesorgt werden. Zum Beispiel durch den Wegfall von Klausuren, da müsste man sich auch jetzt drum kümmern und nicht erst in einigen Wochen.

Und das dritte ist die Schulöffnungsdebatte. Ich halte es für fahrlässig jetzt relativ schnell wieder zur Normalität zurückzukommen. Die Inzidenzwerte von 50 die durch die Presse schwirren, waren mal die Höchstwerte und jetzt soll das die Grenze sein für den vollen Präsenzunterricht. Und das, bei diesen ungewissen Mutationen und ganz vielen nachweislichen Infektionen, die an Kitas und Schulen stattgefunden haben. Das ist meines Erachtens sehr fahrlässig.“

Verstärkt die Pandemie Bildungsungerechtigkeiten?

„Das muss man wohl befürchten. Da wird es sicherlich in anderen Schulformen und anderen Regionen ein bisschen anders zugehen. Insofern muss die Förderung, also die Notbetreuung, noch mehr ausgeweitet werden. Wenn jetzt der Wechselunterricht kommt, bleiben kaum noch Möglichkeiten und Luft für so eine Förderung und das muss dann durch externe Kräfte geleistet werden. Und da kann ich es nicht ganz verstehen, warum nicht zum Beispiel Studierende, die ja durchaus auch bereit sind für solche Dinge, das nicht übernehmen können. Also dass man auf die mal zugeht und gemeinsam Konzepte entwickelt. Das können Lehrerinnen und Lehrer nicht alles alleine leisten.“

Welche Gruppen sind mit Blick auf die Corona-Krise besonders von Bildungsbenachteiligung betroffen?

„Ehrlich gesagt ist das für mich aus meiner Perspektive schwer zu sagen. Wir haben in der Notbetreuung beispielsweise zwischen 2 und 6 Leute sitzen. Zum Teil sitzen in den Studyrooms Oberstufenschüler, die aber dann teilweise kein WLAN zuhause haben oder andere Defizite in der technischen Ausstattung aufweisen. Deswegen würde ich hier keine Aussage treffen wollen. Es müssten Studien durchgeführt werden von Seiten der Landesregierung beziehungsweise des Ministeriums. Erst dann kann man sicherlich einen klareren Blick mit einer anschließenden Konzeptionierung erhalten.“

Wie ist Schule generell aufgestellt für Kinder aus armen Familien oder sozial benachteiligten Verhältnissen?

„Wie gesagt, bieten wir eine Notbetreuung an und haben Studyrooms eingerichtet, zu denen sich die Schüler anmelden können. Wir haben Leihpads für die Schüler, also leihweise IPads, für die Dauerleihe oder die Arbeit in der Schule. Wir haben dazu auch nach wie vor unsere psychosoziale Beratung mit vier Fachkräften. Ansonsten kann man darauf verweisen, dass eigentlich digitale Geräte auch durch die Arbeitsagentur angeschafft werden könnten. Was ich aber deutlich kritisieren muss ist zum Beispiel, dass die hochgelobte SIM-Card mit dem mobilen Zugang umsonst oder für 10€ für alle Schüler, groß im Sommer angekündigt wurde und nichts in dieser Richtung passiert ist. Das gilt auch für andere Dinge die anvisiert und ausgelobt wurden. Auch da gibt es erhebliche Defizite und man beharrt im Prinzip auf einfachsten Aspekten, die ich hier aber nicht weiter ausführen möchte.“

Können digitale Tools helfen, um dem Auseinanderklaffen der Bildungsschere entgegenzuwirken?

„Absolut kann man nur sagen. Ich habe ja schon auf die großen, nahezu unüberblickbaren Möglichkeiten und Perspektiven des Distanzlernens und des Distanzunterrichts hingewiesen. Natürlich fehlt an der ein oder anderen Stelle die Kompetenz und die Fortbildung. Aber es gibt so tolle Sachen. Das fängt bei dem Lernmanagementsystem an, also mit der E-Mail-Funktion, der Kalenderfunktion, dem Messenger und der Newsfunktion. Dazu gibt es beispielsweise noch Padlets, die man sehr gut für den Distanzunterricht nutzen kann, um auch der Bildungsschere ein wenig entgegenzuwirken. Wir haben reichhaltige Feedbacktools auch in NRW, zum Beispiel das Format Edkimo was wir unentgeltlich nutzen können.

All die Dinge kann man zur Kommunikation, zum Feststellen und zum Evaluieren von möglichen Bildungsbenachteiligungen nutzen und sie dienen auch zur sehr guten Vorbereitung auf das Abitur. Diesbezüglich mache ich mir zum Beispiel überhaupt keine Sorgen. Ich finde sogar ehrlich gesagt, dass durch die Pandemie deutlich wird, dass das Abitur einen neuen Stellenwert bekommt. Das heißt jetzt nicht im Vergleich zu anderen Jahrgängen, aber im Bezug auf die Studierfähigkeit. Wer sich hier jetzt selbstbestimmt organisieren, eigenverantwortlich arbeiten, die Kommunikation halten, mit anderen auch über die Distanz zusammenarbeiten kann, also Stichwort Kollaboration, eine gewisse Art von Kreativität nachweisen und eben auch noch kritisch denken kann, zeigt dann die großen vier Kompetenzen fürs 21. Jahrhundert auf. Und diejenigen die das als Kompetenz nachweisen können, die haben es auch wirklich verdient ihr Abitur zu machen, zu schaffen und später zu studieren, denn das ist wirkliche Studierfähigkeit.

Das Problem des Datenschutzes, ich habe gerade Padlet angefügt, das ist auch so in der Grauzone sag ich mal und es kann eigentlich nicht sein, dass Lehrer und Schüler in dieser Zeit in einer Grauzone arbeiten. Hier müsste das Land oder sogar der Bund stärker mit den großen Playern Microsoft, Google und so weiter zusammenarbeiten und wirklich dafür sorgen, dass hier Transparenz geschaffen wird. Es kann nicht sein, dass in einzelnen Bundesländern wie beispielsweise in Hessen, solche Supersachen, die für den Distanzunterricht perfekt sind und auch im normalen Unterricht eine ganz große Hilfe und einen großen Mehrwert bieten können, dann verboten werden. Hier muss im Bereich der Datenschutzfrage dringend nachgebessert werden.“

Was wünschen Sie sich von der Bildungspolitik für das nächste Schuljahr?

„Ich würde mir sehr wünschen, dass das digitale Lernen und das Lernen im Zeitalter der Digitalität eine veränderte Wertschätzung durch die Kultusministerien erfährt und dass man nicht mehr von Schulausfall und keiner Bildung, die momentan stattfindet spricht, sondern dem Ganzen deutlich positiver gegenübersteht, denn das, muss man deutlich sagen, ist die Gegenwart und Zukunft auch außerhalb von Schule. Hinzu kommt, dass man schnellstens darüber nachdenken sollte, neue und alternative Prüfungsformate zuzulassen. Zum Beispiel Erklärvideos erstellen, Open-Book Klausuren durchführen lassen und so weiter. Das wäre ein großer Schritt in Richtung Zukunft. Ansonsten sollten die Schulen auch etwas mehr Freiheiten bekommen in der Ausgestaltung ihres Lehrens und Lernens. Dass eben beispielsweise auch Phasen des Distanzlernens, wie das an einigen Schulen schon durchgeführt wird, mit dem sogenannten Friday. Also vier Tage Präsenz und einen Tag Distanzlernen beziehungsweise eigenverantwortliches, selbstständiges, individuelles Lernen. Sprich, dass man das deutlicher in den Vordergrund stellt und eben auch als Möglichkeiten zulässt und nicht alles quasi im selben Trott lässt. Denn ich glaube, dass die Pandemie sehr viele Sachen offenbart hat und wir müssen und können daraus lernen und insofern durch diese Krise auch profitieren und aus ihr gestärkt hervorgehen.“

image001-3-450x263