„Die Unternehmen brauchen eine Perspektive“

OWL.Der Präsident der Industrie- und Handelskammer Ostwestfalen zu Bielefeld (IHK), Wolf D. Meier Scheuven, plädierte am 6. April bei einer Telefon-Pressekonferenz für konkrete „Soft-Opening“-Pläne für Einzelhandelsgeschäfte und Gastronomiebetriebe. Andernfalls befürchtet der IHK-Präsident eine Pleitewelle, die die Zukunft der Region Ostwestfalen, die IHK-Mitgliedsunternehmen und den gesellschaftlichen Zusammenhalt bedroht.

Auszüge seiner Erklärung im Wortlaut:

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Präsident der Industrie- und Handelskammer Ostwestfalen zu Bielefeld (IHK), Wolf D. Meier Scheuven. Foto:IHK

„Die Corona Pandemie greift um sich. Wir haben in jeweils wenigen Tagen Verdoppelungen von infizierten Menschen gesehen. Wenn sich das so fortsetzt, wird unser Gesundheitssystem überlastet. Deshalb zunächst vorab ganz deutlich: Die Eindämmung der Ausbreitung des Virus mit dem Ziel, die Bevölkerung zu schützen und das Gesundheitssystem nicht zu überfordern, hat auch für die Wirtschaft Priorität. Die Regierung hatte keine andere Wahl als die vollzogenen Kontakteinschränkungen und das Herunterfahren weiter Teile des öffentlichen und wirtschaftlichen Lebens.

Wir durchleben durch diese Maßnahmen, die ja ähnlich auch in unseren wichtigen Beschaffungs- und Absatzmärkten stattfinden, in diesen Wochen die schwerste Wirtschaftskrise nach dem Zweiten Weltkrieg. Es wird immer deutlicher, dass der „Shutdown“ schwere Folgen für die Wirtschaft in Deutschland und auch in Ostwestfalen haben wird.

In den besonders betroffenen Branchen und Unternehmen wächst von Tag zu Tag die Sorge, ob sie die Krise überleben werden. In vielen Betrieben spüren wir Existenzangst pur. Das gilt insbesondere in den Unternehmen, die durch behördliche Verfügung ihr Geschäft am 18. März schließen mussten. Bei vielen ist der Umsatz völlig eingebrochen, häufig auf bis auf null. Eine derartige Einschränkung der Gewerbefreiheit hat es in Deutschland noch nie gegeben.

Weite Teile des Einzelhandels sind von der Schließungsverordnung des Landes betroffen: Bekleidung, Textilien, Schuhgeschäfte, Autohäuser, Fahrradhandel, Kosmetikläden, Fitnessstudios, Saunen usw. Geschlossen sind seit dem 20. März auch Restaurants und Gastronomiebetriebe (Ausnahme: Außer-Haus-Verzehr). Unter den Reisebeschränkungen leiden Reisebüros, Reiseveranstalter, Hotels, Busunternehmen, Taxiunternehmen. Hinzu kommen Eventagenturen, Messebauer, Schausteller, Cateringbetriebe, Fitnesstrainer und einige mehr.

Die IHK teilt die Kritik vieler Einzelhändler am NRW-Erlass, dass es nicht vermittelbar ist, warum im Lebensmittelhandel auch Non Food-Artikel wie Bekleidung, Elektrogeräte, Fernseher, Fahrräder, Sonnenschirme, Liegen und vieles mehr verkauft werden dürfen. Der reine Fachhandel im Bereich Bekleidung, Elektro, Fahrräder etc. dagegen muss seine Türen geschlossen halten.

Da ist nach unserer Einschätzung eine Wettbewerbsverzerrung entstanden. Es wäre vielleicht besser gewesen, Verkaufsverbote nach Warengruppen auszusprechen, nicht nach Einkaufsstätten. Das wäre eine klare und saubere Lösung gewesen.

Daneben spüren wir aber auch in weiten Teilen der Industrie erhebliche Sorgen. Viele Unternehmen haben Kurzarbeitergeld beantragt oder auch schon Kurzarbeit eingeführt, weil ihre Lieferketten porös sind, weil Kunden ihren Betrieb eingestellt haben oder weil Mitarbeitende an dem Virus erkrankt oder in Quarantäne sind.

Der Großhandel und auch viele Dienstleister sind in unserer arbeitsteiligen Wirtschaft ebenfalls mehr oder weniger betroffen und haben ihren Geschäftsbetrieb eingeschränkt. Mit starkem Einsatz von Home-Office-Arbeitsplätzen versuchen viele Unternehmen, ihre Leistungen digital zu erbringen. Es gibt kaum Unternehmen, die nicht von den Auswirkungen des „Shutdowns“ betroffen sind.

Bundes- und Landesregierung haben mit dem Kurzarbeitergeld, mit der Steuerstundung bei den Finanzbehörden und mit milliardenschweren Hilfsprogrammen schnell und entschlossen reagiert und gute Vorarbeit geleistet. Dazu zählt auch das Soforthilfeprogramm, das in NRW bisher von über 320.000 Solounternehmen und Betrieben mit bis zu 50 Mitarbeitern beantragt wurde (Stand: 2. April). Die Zuschüsse wurden bereits in den meisten Fällen in der vergangenen Woche auf die Konten der Antragsteller überwiesen.

Das ist ein sehr gelungenes Beispiel von schnellem Verwaltungshandeln. Die Soforthilfe soll Unternehmen, die von den Auswirkungen der Pandemie wirtschaftlich hart getroffen wurden, helfen, die kommenden drei Monate zu überstehen. Doch die Sorgen vieler Unternehmerinnen und Unternehmer sind groß, dass diese Unterstützung nicht ausreicht.

Daneben wurden von Bund und Land unbegrenzte Kreditprogramme beschlossen, um die Liquidität von Firmen zu sichern. Hier sehen der DIHK und die IHK Lücken im Hilfspaket – vor allem für den Mittelstand. Trotz staatlicher Überbrückungskredite mit Haftungsfreistellungen und Bürgschaften der Bürgschaftsbanken besteht die Gefahr, dass viele Unternehmen im üblichen Prüfverfahren der Banken als nicht kreditwürdig erscheinen. Denn: Bei einem Shutdown mit vollständigem Umsatzverlust gibt es nach herkömmlicher Prüfung keine Kreditwürdigkeit – und das gilt selbst dann, wenn das Unternehmen eigentlich kerngesund ist.

Der DIHK hat eine vorübergehende vollständige Übernahme der Kreditrisiken durch den Bund gefordert. Dem schließen wir uns ausdrücklich an. Bei den Hilfen für den klassischen Mittelstand muss nachgebessert werden. Für viele Betriebe läuft die Liquiditätsuhr mit hohem Tempo herunter.

Die IHK hat in den zurückliegenden dreieinhalb Wochen, seit dem 12. März, 9.000 Unternehmen zu unterschiedlichen Fragestellungen im Zusammenhang mit Corona beraten.

Allein in der eigens für das Soforthilfeprogramm eingerichteten Hotline haben 25 IHK-Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter seit dem 27. März über 3.500 Selbstständige zu den Förderkriterien und dem Antragsverfahren beraten. Bereits vor dem Start der Hotline sind rund 1.100 Anfragen zu staatlichen Förderprogrammen beantwortet worden. Über 800 Auskünfte zu rechtlichen Themen und Kurzarbeitergeld wurden gegeben. Zahlreiche Anfragen gab es zusätzlich in den Bereichen Handel und Dienstleistung unter anderem zum Erlass der Geschäftsschließungen (200), im Bereich International zu Reisen, Zoll, Arbeiten und Arbeitsrecht im Ausland (250) und im Verkehrsgewerbe (300). Die Sonderseite zum Coronavirus auf der IHK-Homepage mit zahlreichen Informationen für Unternehmen wurde im März insgesamt 39.000 Mal aufgerufen. Diese Zahlen zeigen sehr deutlich, wie sehr die Unternehmen in Ostwestfalen betroffen sind.

Die Einschränkungen im Wirtschaftsleben müssen verhältnismäßig sein und die Vielzahl der wichtigen Dinge im Leben im Blick behalten. Zu diesen Dingen gehört auch der Schutz von Unternehmen, Arbeitsplätzen und sozialen Kontakten.

Die zentrale Frage ist für uns die Frage nach dem Ausstieg aus dem Shutdown. Ein schnelles „back to normal“ wird es sowieso nicht geben. Wir müssen uns jetzt Gedanken darübermachen, wie eine schrittweise Wiederaufnahme des Wirtschaftslebens aussehen kann und muss. Die Unternehmen benötigen eine Perspektive. Es ist die Aufgabe verantwortlicher Politik, solche klare und wohlbegründete Perspektiven zu formulieren.

In besonders betroffenen Branchen, wie beim Einzelhandel, kann man im Sinne eines „Soft-Openings“ die weiter bestehenden Risiken beispielsweise über einen begrenzten Zugang, Plexiglasschutz, Abstandshalter, Bodenmarkierungen, Einbahnregelungen, Hygieneschutz im Kassenbereich, verpflichtendes Tragen von Gesichtsschutz minimieren. In der Gastronomie wird man mit einer Beschränkung der Gästezahl, größeren Abständen zwischen den Tischen, einer Reduktion auf Zweiertische reagieren können und müssen.

Die IHK plädiert dafür, sobald wie möglich bestimmten geeigneten Teilen der Wirtschaft ein „Soft-Opening“ unter Auflagen zu ermöglichen und dafür jetzt Konzepte zu entwickeln. Insbesondere in weiten Bereichen des Handels, wie zum Beispiel Autohäusern, Blumenläden, dem Modehandel, dem Elektrohandel und weiteren Sparten des Fachhandels sowie in Teilen der Gastronomie, in denen ein Mindestabstand gewährleistet werden kann, lassen sich Maßnahmen entwickeln, die in der Abwägung zwischen Gesundheitsschutz und langsamer Rückkehr zur wirtschaftlichen Normalität verantwortbar erscheinen.

Es gibt ein Leben nach Corona. Es wird aber anders sein als vor Corona. Und auf diese Änderungen müssen sich die Unternehmen und auch die Kunden vorbereiten können.

Bis zum 20. April werden die meisten Unternehmen wohl durchhalten. Sollte es dann aber nicht sehr bald zu einer schrittweisen Rückkehr in das normale Geschäftsleben kommen, dann mache ich mir, machen wir uns große Sorgen um die Zukunft unserer Region, um unsere Unternehmen und um unseren gesellschaftlichen Zusammenhalt. Die Lage ist in der Tat sehr ernst!“

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