Informationsabend über ein revolutionäres Projekt
Bielefeld. Das dritte Mal war die Hamburger Ethnologin Anja Flach am 17. März in Bielefeld. Auf Einladung zahlreicher kurdischer, türkischer und deutscher Organisationen informierte sie über die autonomen Kantone im Norden Syriens, auch Rojava genannt.
Im Juli 2012, die Truppen der Assad-Regierung waren durch den Bürgerkrieg geschwächt, übernahmen Volksräte und Verteidigungskomitees unblutig die Kontrolle über das Gebiet. Um die Versorgung mit Wasser, Strom und Nahrungsmitteln sicherzustellen, organisierten sich die Menschen in Kommunen. Diese umfassten die Bewohner*innen von bis zu 150 Häusern. Sie kümmern sich u.a. um die Gesundheitsversorgung und die Lösung sozialer Probleme. Was in den Kommunen nicht geregelt werden kann, klären die Stadtteilräte. In den Gremien sind alle ethnischen und religiösen Gruppen vertreten. Ein Frauenanteil von 40 % und eine Doppelspitze sind garantiert. Frauenzentren gibt es überall. Sie bauen landwirtschaftliche Kooperativen, Gesundheitszentren und Kindergärten auf. Anja Flach spricht von der „Revolution der Frauen“.
In Rojava gibt es endlose Weizenfelder, aber wegen des Embargos keine Möglichkeit Weizen zu exportieren. 60 % des syrischen Erdöls lagern in Rojava, aber es fehlen Raffinerien. Das einst staatliche Land wurde an Kooperativen verteilt, die z.B. Obst und Gemüse anbauen. Überall enstehen genossenschaftlich und nachhaltig geführte Nähereien, Bäckereien und Werkstätten.
Als Gesellschaft jenseits von Kapitalismus und Patriachat war Rojava von Anfang an heftigen Angriffen ausgesetzt. Kurdische, assyrische, arabische und turkmenische Kämpferinnen und Kämpfer organisierten sich in Volksverteidigungseinheiten. Diesen gelang es nicht nur Tausende von Jezid’*innen aus Shingal zu retten, sie verteidigten auch die Stadt Kobane erfolgeich gegen den „Islamischen Staat“ IS. Obwohl der IS massiv von der Türkei, Saudi-Arabien und Katar unterstützt wurde, musste er in Kobane seine erste schwere Niederlage hinnehmen und wird seitdem zurückgedrängt.
In der Diskussion ging es um weitere Gefahren für Rojava. Das Embargo behindert den Wiederaufbau. Es gibt Konflikte zwischen den ethnischen Gruppen. Alle Nachbarstaaten einschließlich dem von Deutschland aufgerüsteten Barsani-Regime im Nordirak stehen Rojava feindlich gegenüber. An den aktuellen Syrien-Friedensgesprächen darf kein*e Vertreter*in Rojavas teilnehmen. Die Zusammenarbeit zwischen Rojava und den USA funktioniert nur, weil die USA keinen anderen Partner im Kampf gegen den IS finden.
Etwa 4000 junge Menschen kamen bisher bei den Kämpfen um Rojava ums Leben. Die Zerstörungen in Kobane und anderswo sind groß. Aber, so sagen die Menschen in Kobane: „Dies sind keine Ruinen, sondern die Fundamente einer neuen Welt“.
Nachtrag: Am 17. März 2016 rief eine Versammlung von kurdischen, assyrischen, arabischen und turkmenischen Delegierten die „Autonome Region Nordsyrien“ aus.
Foto: Michael Pusch, Anja Flach