Von Rüllken und grooten Buuornrädern – Westfalen fährt Rad

LWL-Volkskundler nehmen Zweiräder zum Tag des Fahrrads in den Blick

Westfalen (lwl). Am Samstag (3.6.) ist der Europäische Tag des Fahrrads. Aus diesem Anlass nehmen die Volkskundler beim Landschaftsverband Westfalen-Lippe (LWL) die Zweiräder in den Blick und weisen darauf hin, dass die Zweiräder gleichzeitig ihren 200. Geburtstag feiern. Denn Karl von Drais trat im Juni 1817 mit seiner hölzernen „Laufmaschine“ zu einer ersten Fahrt an.

FahrradDamals war noch nicht abzusehen, welche Erfolgsgeschichte das Fahrrad – allerdings in Form des Niederrades – verzeichnen würde. „Im Gegensatz zum anspruchsvollen Hochrad wurde das in den 1880er Jahren entwickelte Niederrad anfangs auch Sicherheitsrad genannt,“ erklärt Niklas Regenbrecht von der Volkskundlichen Kommission für Westfalen beim LWL. „Die Erfindung des Niederrades hat spürbar zur Verbreitung des Fahrrads beigetragen. Auch in Westfalen trat es gegen Ende des 19. Jahrhunderts seinen Siegeszug an.“

In den Archiven der Volkskundlichen Kommission finden sich verschiedene Berichte über das Auftauchen des neuen Transportmittels. So schildert ein Mann aus Lübbecke, wie er kurz nach der Jahrhundertwende die ersten Fahrräder im Landkreis zu sehen bekam. Besonderes Augenmerk legte er auf die Unterscheidung zwischen Vollgummireifen und den komfortableren, modernen Luftreifen. Wurde man von den schnellen Radfahrern überholt, pflegte man ihnen nachzurufen: „Brink mii un Rüllken.“ Damit spielte man auf die Röllchen Kautabak an, die vor Ort nicht erhältlich waren. Mit dem Rad konnte man nun schneller größere Distanzen überwinden und damit eben auch Besorgungsfahrten in einem größeren Umkreis erledigen. So wurde „Rüllken“ dort zu einem Spitznamen für das Fahrrad. Kurz darauf eröffneten in den Dörfern die ersten „Radfahrerhändler“, wie sich die Fahrradgschäfte zunächst nannten. Die Kundschaft verlangte zu dieser Zeit schlicht und prägnant „un richtich groot BuuornRad“ (ein richtig großes Bauernrad).

Wer um die Jahrhundertwende in den Bauernschaften um Rheine (Kreis Steinfurt) bereits ein Fahrrad besaß, wurde bestaunt und galt als ein „Spring up de Kist“. Ein weiterer Gewährsmann aus Rheine-Catenhorn berichtete in den 1960er Jahren stolz, wie er 1902 sein erstes Fahrrad bekommen hatte. Die neue Fortbewegungsart hatte er in nur zwei Stunden gelernt, doch auf der ersten Ausfahrt stürzte er bereits. Denn das Absteigen hatte ihm niemand beigebracht.

„Kleinere Unfälle und defekte Teile taten der Begeisterung aber keinen Abbruch. Radfahren war vor allem im ländlichen Raum zu dieser Zeit allerdings nicht ungefährlich“, so Regenbrecht. „Weder waren die anderen Verkehrsteilnehmer, hauptsächlich Fußgänger und Pferde, an die neuen schnellen Fortbewegungsmittel gewöhnt, noch waren die Straßen entsprechend befestigt.“ In Rheine riet man dem genannten Radler, auf abschüssigen Wegen besser zu schieben, doch dieser konnte bereits auf seine fortschrittliche Rücktrittbremse verweisen.

FahrradIn den Städten setzte sich das Rad vor allem unter den Arbeitern schnell als Fortbewegungsmittel durch, vor allem als die Fahrräder zu Beginn des 20. Jahrhunderts durch Massenproduktion erschwinglicher wurden.

In Ostwestfalen entstand ein Zentrum der Fahrradindustrie. In Bielefeld begannen Nähmaschinenhersteller ab den 1880er Jahren in absatzschwachen Zeiten, Räder zu produzieren. Für den Fahrradbau benötigten sie ähnliche Teile wie für die Nähmaschinen, daher war die Umstellung leicht möglich. Von einem Nebenerwerb wurde das schnell zur Hauptgeschäft, Firmen wie Dürkopp oder Göricke wuchsen zu marktführenden Großunternehmen heran.

Fahrräder dienten jedoch nicht nur der Fortbewegung im Alltag, sondern waren auch als Freizeitgerät beliebt. In Leeden im Tecklenburger Land gründete sich 1910 beispielsweise der Radfahrer-Verein „Bergeslust“, um „bei Geselligkeit und Brüderlichkeit die Radfahrer zu fördern“ und durch „Übungen auf dem Rad den Körper zu stählen“, wie im Protokollbuch des Vereins aus dem Jahr 1921 zu lesen ist. An anderen Orten wurden Arbeiterradfahrvereine gegründet, bei denen neben körperlicher Betätigung auch politische Solidarität zum Ausdruck gebracht werden sollte. Oft mehrtätige Radwanderungen und Sternfahrten gehörten zum Programm solcher Vereinigungen.

Radfahrerkolonnen gehörten zu feierlichen Umzügen wie beispielsweise bei der Einführung eines neuen Pfarrers in Münster-Roxel 1959 dazu. Reitern und Wagenkolonnen folgte eine Abordnung Erwachsener und Jugendlicher „hoch zu Rad“. Wie den Rest des Dorfes schmückte man auch die Räder festlich mit Blumen oder Fahnen.

Foto 1: Kein Vergleich zu heutigen Lastenfahrrädern oder Kinderanhängern: Gerätetransport in den 1960er Jahren in Castrop-Rauxel © LWL-Volkskundearchiv/Orwat

Foto 2: Diese Jungen fuhren 1959 mit ihren geschmückten Fahrrädern durch Münster-Roxel © LWL-Volkskundearchiv/Risse