VDI OWL unterstützt mit Expertise und Netzwerk in der Corona-Krise

Lebensrettende Beatmungsgeräte Marke Eigenbau

Bielefeld/Ostwestfalen-Lippe. Aus Schläuchen, Klebeband, Buchdeckeln und weiteren Materialien an Bord der Mondfähre Apollo 13 bestand der selbstgebaute Luftfilter, der vor 50 Jahren das Leben dreier Astronauten rettete. Heute sind weltweit dort ungewöhnliche Problemlösungen gefragt, wo die Corona-Pandemie mit vielen schweren Verläufen wütet und schnell genügend Beatmungsgeräte gebraucht werden. Gleich zu Beginn der Virus-Krise hatte Professor Rainer Barnekow, Vorsitzender des Bezirksvereins Ostwestfalen-Lippe des Vereins Deutscher Ingenieurinnen und Ingenieure (VDI OWL), Projekte angestoßen und unterstützt, bei denen Querdenker an einfacheren Versionen dieser Maschinen tüfteln. Die Ergebnisse, darunter der Prototyp EVEREST, sind beachtlich.

Levente Tuerk mit EVEREST.

Levente Tuerk mit EVEREST.

„Auch in punkto Beatmungsgeräte wollen wir uns in den Dienst der Gesellschaft stellen und als Ingenieursverein die Suche nach technischen Problemlösungen unterstützen“, so Professor Barnekow, der Verfahrenstechnik an der Technischen Hochschule Ostwestfalen-Lippe in Lemgo lehrt. Man wolle Querdenker, Pioniere und Fachkräfte zusammenführen, das Know-how verschiedener Experten wie CAD-Zeichner, Chemiker, Hacker, Informatiker, Ingenieure, Mediziner, Pflegekräfte und Unternehmer. Das Motto: miteinander statt gegeneinander. Der Hintergrund: In Ländern mit unzureichendem Gesundheitssystem oder mit vielen schwer verlaufenden Corona-Fällen könnten durch einfache, auch provisorische Lösungen Menschenleben gerettet werden. Die Zielsetzung: die Entwicklung leicht herzustellender Beatmungsgeräte aus Alltagskomponenten, deren Baupläne und Steuerungssoftware via Internet weltweit zur Verfügung gestellt werden.

Beispielhafte Initiativen und Projekte

In diesem Sinne werden vom VDI OWL drei beispielhafte Initiativen und Projekte gefördert. Jan-Henrik Zünkler, nach einem Industrial Engineering-Studium derzeit im Master-Studium Electrical Engineering an der Universität Paderborn, hat zusammen mit dem Dortmunder Master-Studenten Levente Türk (Studiengang Materialwissenschaften) die Lockdown-Phase an der Hochschule genutzt. Die Krise in Italien vor Augen, nahmen sie eine Idee aus 2019 wieder auf. Das Ergebnis: der „Easy Ventilator for Emergency Situations“, kurz EVEREST, ein Beatmungsgerät für Notfallsituationen.

Das modular aufgebaute Gerät aus Baumarktutensilien und Elektrobedarf haben sie „in drei, vier Wochen entwickelt, konstruiert und zusammengebaut“. Die Besonderheit: Es arbeitet mit Steuerungstechnik, Sensorik und Pneumatik statt Balgpumpen (so genannte Ambu Bags, die laut Zünkler „leicht reißen“) und kann den Sauerstoffgehalt messen. Über einen kleinen Computer mit Touchscreen und Bildschirm können Messwerte und die Beatmung angezeigt werden. „Zudem läuft unser EVEREST mit Batterie bis zu vier Stunden stromunabhängig weiter, so dass damit beispielsweise ein Patient bei akuter Atemnot bis ins Krankenhaus transportiert werden kann“, so der Paderborner Master-Student.

Teilnahme an Hackaton #EUvsVirus

Ihren Prototypen reichten sie Ende April bei dem Online-Wettbewerb #EUvsVirus-Hackaton der Europäischen Kommission ein. Die ersten drei Plätze unter mehr als 9.000 Bewerbungen belegten große Profi-Teams. Dennoch fand die Demonstrationsversion des EVEREST, die nach dem Leitfaden der britischen Regierung für Notfall-Beatmungsgeräte weiterentwickelt wurde, Beachtung. Auch wenn derzeit der weltweite Bedarf zurückgegangen ist, sucht das Entwickler-Duo Unternehmen aus den Bereichen Medizintechnik und Pneumatik, um ihren Prototypen mit Hardware und Software auf Herz und Nieren zu testen und zur Marktreife zu bringen.

Auf Anregung des VDI OWL hat sich Ende März ein interdisziplinäres Studierenden-Team um Florian Wiethof gebildet, um ein Beatmungsgerät für den Einsatz im Krankenhaus zu bauen. Die Mitglieder, überwiegend Studierende der Universität Paderborn, aber auch der Hochschule Ostwestfalen-Lippe, arbeiten normalerweise in diesen Monaten des Jahres neben ihrem Studium an Rennwagen. Als UPBracing Team und OWL Racing-Team stehen sie mit ihren selbstentwickelten Prototypen und zugehörigen Businessplänen auf der Formula Student Germany und anderen internationalen Wettbewerben in Konkurrenz.

VDI OWL unterstützt mit Expertise und Netzwerk in der Corona-Krise. Fotos: VDI OWL

Neues Lernprojekt für Racing Teams

Jetzt haben 22 von ihnen wochenlang digital vernetzt an einem Strang gezogen, Grundlagen recherchiert, Kontakte zu Krankenhäusern, Intensivmedizinern und Ärzten aufgenommen und die Komponenten unter Nutzung von Normteilen zusammengestellt. Die Hauptmodule ihres Beatmungsgeräts bestehen aus einer Standard-Krankenhaus-Maske, einem Adapter, einem Normanschluss beispielsweise für einen Kompressor, Sensoren und elektrisch angesteuerten Ventilen.

Die Hardware steht bereit, derzeit arbeiten noch sechs Beteiligte an der Softwareentwicklung. „Wir haben die Hochschul-Pause und die Absage der Renn-Events als Experimentierphase genutzt“, resümiert Florian Wiethof, Masterstudent im Maschinenbau, „die Entwicklung des Beatmungsgeräts haben wir als sinnvolles Lernprojekt gesehen, das Erfahrungen und Erkenntnisse bringt, wie theoretische Ansätze in die Praxis umgesetzt werden. Da ist es egal, ob es sich um Rennwagen oder Beatmungsgeräte handelt.“

Improvisierte Lösungen im Netz

Mit dem Fachkrankenpfleger für Intensivpflege und Anästhesie, Lukas Maksimowski, hat Professor Rainer Barnekow einen erfolgreichen Blogger ins Boot geholt. Der 37-Jährige, der nach 16 Jahren in der Intensivpflege in den Vertrieb von Medizintechnik wechselte, sitzt in Ratingen. Angeregt von Internetvideos aus den USA, die komplexe medizinische Zusammenhänge mittels Merksätzen und Schaubildern einfach erklären, startete er 2015 auf YouTube seinen Blog „Pflege Kraft“. Seine Zielgruppe: Berufsanfänger, Absolventen einer Fachausbildung zur Intensivpflege, angehende Ärzte. Heute folgen ihm über 30.000 Menschen (Follower).

Für den VDI OWL hat Maksimowski zwei neue Videos erstellt, die sich um Beatmungsgeräte und „unkonventionelle Ansätze zur Bewältigung der Herausforderungen im Alltag“ drehen. Der Blogger informiert und fordert zum interdisziplinären Austausch und Querdenken auf. Er verweist auf Deutschland, Frankreich, Italien und die USA, wo Teile der Automobilindustrie auf die Entwicklung von Beatmungsgeräten umgestellt haben. Er stellt Lösungen vor, Beatmungsmöglichkeiten, die fernab von medizinischen Geräten und Krankenhäusern provisorisch helfen können. Am 21. September 2020 wird der Pflege Kraft-Blogger als Hauptredner auf der Mitgliederversammlung des Bezirksvereins in Bielefeld sprechen.

Jetzt ist Maksimowski erleichtert darüber, „dass der Bedarf an Beatmungsgeräten in Deutschland doch gedeckt werden konnte“. Für die USA dagegen gebe es keine Bedarfsdaten, wobei die Fallzahlen erschreckend seien: „Wenn von 1,7 Millionen Infizierten geschätzte zehn Prozent auf Beatmungsgeräte angewiesen sind, dann wären das 170.000 Menschen. Ich hoffe sehr darauf, dass improvisierte Geräte Marke Eigenbau gar nicht erst gebrauchen werden.“

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