Der entfesselte Blick

Marta_Herford_Rasch2014Herford. Die frühen Architekturentwürfe der Brüder Heinz und Bodo Rasch sind einzigartig in der Ideengeschichte des 20. Jahrhunderts. Ihre gezeichneten Visionen zu Hängehaus-Konstruktionen, zu containerartigen Modulen oder luftgefüllten Gebäudehüllen weisen weit über die Möglichkeiten ihrer Zeit hinaus. Marta Herford setzt in einer außergewöhnlichen Ausstellungsarchitektur das vielfältige Werk der beiden Brüder in ein aufschlussreiches Verhältnis zur jüngeren Architekturgeschichte. Fünf zeitgenössische KünstlerInnen zeigen mit raumbezogenen Arbeiten, wie weit diese ‚Entfesselung des Blicks‘ in die Gegenwart reicht.

Mit der Ausstellung „Der entfesselte Blick – Die Brüder Rasch und ihre Impulse für die moderne Architektur“ richtet Marta Herford den Blick auf Heinz (1902-1996) und Bodo (1903-1995) Rasch und lässt sie aus dem Schatten der „anonymen Moderne“ heraustreten. Die Brüder, die zwischen 1926 und 1930 in einer äußerst fruchtbaren Lebens- und Arbeitsgemeinschaft mit einem ganzheitlichen Ansatz gestalteten, verbanden visionären Erfindergeist mit lösungsorientierter Ingenieurskunst: Bereits 1927 legten sie erste Pläne für spektakuläre Hängearchitektu¬ren vor. Als Vertreter des Neuen Bauens, als Architekturtheoretiker, Publizisten, Werbegrafiker und Möbelgestalter wirkten sie an wichtigen Projekten der Moderne mit. Dazu gehörten die Stuttgarter Weißenhofsiedlung und die Entwicklung des Kragstuhls, der später als Freischwinger populär wurde.

Heinz Rasch studierte Architektur in Hannover und Stuttgart und eröffnete noch während des Studiums seine erste Firma – 1926 trat der jüngere Bruder Bodo hinzu. Schnell entwickelte sich ihr Atelier zu einem wichtigen Treffpunkt der Stuttgarter Gestalter- und Architektenszene. Inmitten dieses Netzwerkes standen Heinz und Bodo Rasch: Einerseits waren sie eng befreundet mit Künstlern wie Willi Baumeister, Oskar Schlemmer, Kurt Schwitters oder Otto Dix, andererseits standen sie im Austausch mit Architekten wie Walter Gropius, Erich Mendelsohn, Ludwig Mies van der Rohe, Mart Stam, Bruno Taut oder Martin Wagner. Als die beiden Brüder den Auftrag für die Ausstattung zweier Musterwohnungen für die Stuttgarter Weißenhofsiedlung erhielten, zog Mies van der Rohe für kurze Zeit in das „Atelier-Laboratorium“ der Raschs.

Marta_Herford_Rasch2014

MARTa Herford

Im Weißenhofwurde auch die Idee des Kragstuhls zum ersten Mal der Öffentlichkeit präsentiert. Seit 1924 arbeiteten die Brüder daran, neuartige Sitzmöbel zu entwickeln, die vor allem schlicht, industriell reproduzierbar und günstig waren. In ihren Publikationen, durch Analyse und Variationen von Stühlen und durch Untersuchungen zur Ergonomie des Sitzens prägten die Brüder Rasch die höchst spannende Geschichte des Freischwingers.

Es waren Heinz und Bodo Rasch, die – etwa zeitgleich mit Richard Buckminster Fuller in den USA – erstmals die Idee skizzierten, ein ganzes Haus an seinem Gebäudekern aufzuhängen und zu ganzen Siedlungsstrukturen nach dem „System Rasch“ zusammenzufügen. Auch die in den 1920er Jahren von ihnen gezeichneten modularen Strukturen visualisierten sie, bevor es das Wort Container überhaupt gab (erst 1955 wurde der Frachtcontainer entwickelt). Eine dritte Entwicklungslinie des zukünftigen Bauens markiert schließlich der Gedanke, luftgefüllte Zellen für temporäre Hallen und trägerarme Dächer einzusetzen. Europa allerdings steuerte in den Zweiten Weltkrieg, und erst die Architekturmoderne der 1960er und 1970er Jahre konnte mit neuen technischen Möglichkeiten diese Entwicklungslinien wieder aufgreifen. Teils mit direkter Bezugnahme, teils ohne Kenntnis dieser Vordenker entwickelten nun weltweit Architek¬ten wie Kengo Kuma, Egon Eiermann, Norman Foster oder Coop Himmelb(l)au ambitionierte neue Bauformen, die die Marta Ausstellung in einem zweiten Teil weiterverfolgt.

Schließlich wurden fünf KünstlerInnen von Marta Herford eingeladen, ihren ganz persönlichen Blick auf die Visionen der Raschs zu werfen: Martin Pfeifle (*1975, lebt in Düsseldorf) hat in der Eingangsgalerie einen beweglichen Parcour von pendelnden Zylindern aus blauem und grauem Messeteppich angelegt. Ernesto Neto (*1964, lebt in Rio de Janeiro) steht mit seinen organisch anmutenden Objekten, die er mittels horizontaler und vertikaler Verspannungen zu Räumen verdichtet, im Dialog zu den kühnen Rasch-Konstruktionen. Michael Beutler (* 1976, lebt in Berlin) zeigt eine kuriose und archaisch wirkende Maschine, die in einem performativen Akt architektonische Module hergestellt hat. Die Künstlerin Luka Fineisen (* 1974, lebt in Köln und San Francisco) zeigt eine schwebende, mehrgeschossige Säule aus luftgefüllten, silbrig-glänzenden Folien, die sich mit zunehmender Höhe aufzulösen scheinen. Aus dem Prozess der Dekonstruktion von Möbeln heraus entstehen bei Erika Hock (* 1981, lebt in Brüssel und Düsseldorf) zeichnerische Skulpturen, die den Ausstellungsraum wie Lebewesen erobern.

Ausstellung: 25. Oktober 2014 – 1. Februar 2015

BU-1: (Foto: Sigrid Neubert, © BMW Group Archiv) BMW Hochhaus und Museum, 1968
BU-2: (Foto: Original aus dem Nachlass Heinz Rasch, Deutsches Architekturmuseum Frankfurt a. Main) Eine Montage eines Fotos: Heinz (li.) und Bodo Rasch (re.) mit Dr. Köstel auf dem Tagblatt-Turmhaus