Sozialer Jetlag: Schlafdefizite lassen sich ausgleichen

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„Baustelle Kinderschlaf“ veröffentlicht neueste Forschungserkenntnisse

Bielefeld/Dresden. Zur Frühjahrstagung der AG Pädiatrie der Deutschen Gesellschaft für Schlafforschung und Schlafmedizin e. V. (DGSM) in Bielefeld erscheint das Buch „Baustelle Kinderschlaf“ mit neuesten Forschungsergebnissen zu Schlafstörungen.

36 Experten beschäftigen sich in 19 Beiträgen mit Alpträumen, Narkolepsie, Epilepsie und Schlaf, chronisch entzündlichen Darmerkrankungen und Schlaf sowie kognitiver Verhaltenstherapie bei Neurodermitis und Schlafstörungen. Die Herausgeber, Kinderpsychologin Angelika Schlarb aus Bielefeld und Kinder- und Jugendarzt Ekkehart Paditz aus Dresden, greifen im Jahrbuch „Baustelle Kinderschlaf – Aktuelle Kinderschlafmedizin 2016“ unter anderem die aktuelle Debatte über den frühen Schulbeginn auf.

Wer viel feiert und wenig schläft, kommt montags in der Schule schlechter mit

Die Kernbotschaft der Pilotstudie von Andrea Bosse-Henck (Schlaflabor des Universitätsklinikums Leipzig), Jannik Sonntag (BIP Kreativgymnasium Leipzig) und Rainer Koch (Biostatistiker, Radebeul/Dresden) mit 17 Leipziger Schülern der 10. Klasse heißt: „Der Chronotyp und der Zeitpunkt des Schulbeginns hatte bei diesen Gymnasiasten keinen Einfluss auf die morgendliche geistige Leistungsfähigkeit.“ Viel mehr beeinflussten das Lebensalter und die Schlafdauer am Wochenende die Lernergebnisse. Jüngere Schüler reagierten am Montagmorgen schneller als ältere. Der Chronotyp spielte bei der morgendlichen geistigen Leistungsfähigkeit keine Rolle. Ohnehin gab es in der Gruppe nur sehr wenige „Eulen“ (Abendtyp) bzw. „Lerchen“ (Morgentyp). Die meisten waren „Mischtypen“. Deutlich wurde: „Wer von Freitag bis Sonntag wenig schläft und viel feiert, bekommt in der Schule die Quittung: schlechtere schulische Leistungen“, fasst Bosse-Henck zusammen. Die Autoren äußern sich auch zum so genannten „Sozialen Jetlag“: Stress und Schlafdefizite der Woche können am Wochenende ausgeglichen werden. Nur eine halbe Stunde mehr Schlaf in der Nacht vom Freitag zum Samstag erhöhte die Chance auf eine bessere Testleistung am Montagmorgen um 28 Prozent.

Chronotyp nur zu 25 bis 50 Prozent genetisch bedingt

Christoph Randler aus Tübingen gibt auf der Grundlage von Untersuchungen an 25.000 Kindern einen Überblick über den derzeitigen Kenntnisstand zum Chronotyp bei Kindern, Jugendlichen und jungen Erwachsenen bis zum 30. Lebensjahr. „Dieser wird nur zu 25 bis 50 Prozent durch genetische Faktoren geprägt“, so der Pädagoge. Das Verhalten der Eltern wirkte sich deutlich auf die Verschiebung des Schlafverhaltens zwischen Wochentagen und freien Tagen aus. Deshalb ist der „Soziale Jetlag“ auch für Kinder ein praxisrelevantes Thema.

Unausgeschlafene Kinder sind aggressiver

Gedächtnisbildung, emotionale Befindlichkeit und Schlaf hängen eng zusammen. Kinderpsychologen sind sich einig: zu wenig Schlaf ist bei kleineren Kindern mit vermehrter Aggressivität und verstärkten ADHS-Symptomen verbunden. Angelika Schlarb, Isabel Brandhorst, Stefanie Jäger und Friederike Lollies aus Bielefeld weisen darauf hin, dass die Kinder entspannter Eltern, die tagsüber nicht sofort auf jede Willensbekundung ihrer Kinder reagieren, nachts oft ruhiger schlafen. Bei Puzzle-Spielen zeigten Kinder, denen eine Mittagsruhe gewährt wurde, mehr Freude als diejenigen, die keine Mittagsruhe hatten.

Belohnungen wirken nur bei ausreichend Schlaf

Alexander Prehn-Kristensen und Kollegen von der Forschungsabteilung der Klinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie und -psychotherapie Kiel prüften in einer Studie, ob der Schlaf bei Kindern wie bei Erwachsenen dazu beiträgt, belohnte Gedächtnisinhalte zu stabilisieren. Sie kamen zu dem Schluss, dass nur am Abend zu lernende Aufgaben, die mit einer Belohnung verbunden wurden, morgens deutlich besser erfüllt werden konnten. Nach Ansicht der Autoren festigt der Schlaf Gedächtnisinhalte.

Gespenster im Kinderzimmer – gehäuft bei schlechten Noten

Fünf Prozent aller Grundschüler berichten einmal wöchentlich über Alpträume. Gründe können Schulprobleme, Probleme mit Gleichaltrigen oder Konflikte der Eltern sein. Besonders beeindruckt waren die Wissenschaftler aus Bielefeld und Tübingen (Angelika Schlarb, Isabel Bihlmaier, Stefanie Jäger, Maria Zschoche), dass vor allem schlechte Schulleistungen (Note 4 oder schlechter) mit häufigen Alpträumen verbunden waren. Sie halten das Thema deshalb für sehr relevant für die weitere schulische Karriereentwicklung und fassen wirksame Interventionsmöglichkeiten zusammen.

Wenig Schlaf und Bauchschmerzen bedingen einander

Schlafmangel begünstigt chronische Entzündungen und Bauchschmerzen. Forscherinnen aus Bielefeld (Ann-Kristin Manhart, Sara Maria Hellmann und Angelika Schlarb) weisen auf den bisher kaum bekannten Zusammenhang zwischen chronisch-entzündlichen Darmerkrankungen wie Morbus Crohn und Colitis ulcerosa und Schlafstörungen hin. Besonders interessant ist, dass ein Viertel dieser Patienten unter 25 Jahre alt ist. Zwar wird die Datenlage der vorliegenden Studien als noch gering eingestuft, doch ist sicher, dass sich ein gestörter Schlaf ungünstig auf den Krankheitsverlauf auswirkt. Umgekehrt verändern auch chronisch-entzündliche Darmerkrankungen den Schlaf.

Fragebögen erleichtern Diagnostik

Schlafstörungen werden auch häufig bei Kleinkindern mit Neurodermitis beobachtet. Mehr Kindern und Jugendlichen musste in den letzten Jahren die Diagnose Narkolepsie mitgeteilt werden. Wie schwierig sich die diagnostische Abklärung einer extremen Tagesmüdigkeit bei einem Neunjährigen gestaltetete, wird ebenfalls berichtet. Ein Kapitel beschäftigt sich mit Erscheinungsformen von epileptischen Anfällen. Fragebögen können die Erkennung von Schlafstörungen bei Kindern und Jugendlichen unterstützen. „Baustelle Kinderschlaf“ listet diverse hilfreiche Materialien auf, beschreibt diagnostische Verfahren, nennt therapeutische Möglichkeiten, erleichtert die Suche nach Kinderschlaflaboratoren und spart auch gesundheitsökonomische Fragen nicht aus. Das abschließende medizingeschichtliche Kapitel stellt erstmals systematisch Quellen und Abbildungen vor, die belegen, dass die Rückenlage seit der Antike bis in die Neuzeit als Schlafposition für Säuglinge empfohlen wurde.