„Euthanasie-Erlass“ vor 80 Jahren: Anne, ermordet mit vier Jahren

Westfalen-Lippe (LWL). Als die vierjährige Anne Hagenroth (Name geändert) im Juni 1944 in die Provinzialheilanstalt Dortmund-Aplerbeck eingeliefert wird, diagnostizieren die Ärzte eine geistige Behinderung. Vier Monate später ist das kleine Mädchen tot. Ermordet im Rahmen von Hitlers sogenanntem „Euthanasie“-Erlass, der sich am Sonntag (1.9.) zum 80. Mal jährte.“Auch Jahrzehnte nach diesem Verbrechen ist es unsere Pflicht, die Erinnerung an derartige Gräuel lebendig zu halten“, sagt Matthias Löb, Direktor des Landschaftsverbandes Westfalen-Lippe (LWL).

In den beiden Provinzial-Heilanstalten wie hier im St. Johannes-Stift Marsberg wurden zwischen 1939 und 1945 über 200 Kinder ermordet. Foto: LWL-Medienzentrum

In den beiden Provinzial-Heilanstalten wie hier im St. Johannes-Stift Marsberg wurden zwischen 1939 und 1945 über 200 Kinder ermordet.
Foto: LWL-Medienzentrum

Die Akte von Anne lagert heute im LWL-Archivamt für Westfalen in Münster. Sie umfasst lediglich ein paar Blätter: Geburtsurkunde, Versicherungs- und Aufnahmeschreiben, ein Verzeichnis ihrer Kleidung, Aufnahmebogen, ein paar Sätze zu ihrem Aufenthalt in der Heilanstalt und schließlich die Sterbeurkunde. Sie zeichnen das Bild eines viel zu kurzen Lebens: 1940 geboren, wurde das kleine Mädchen innerhalb eines Jahres zweimal verschüttet. Beide Male sei Anne, so heißt es in den handschriftlichen Notizen des behandelnden Arztes, „sehr schreckhaft und ängstlich“ gewesen und habe „hinterher noch tagelang geschrien“. Heute würden Psychiater wohl von einer Posttraumatischen Belastungsstörung sprechen. 1944 heißt es lediglich: „Kind ist außerordentlich unruhig, schreit Tag und Nacht. Verhält sich ablehnend und widerstrebend.“

Anne Hagenroth ist eines von schätzungsweise mehr als 200 Kindern, die in den Kinderfachabteilungen des St. Johannes-Stifts Niedermarsberg und der Provinzialheilanstalt Dortmund-Aplerbeck zwischen 1939 und 1945 ermordet wurden. „In der Bevölkerung war das ein offenes Geheimnis“, erklärt Prof. Dr. Malte Thießen, Leiter des LWL-Instituts für westfälische Regionalgeschichte. „Ein Großteil der Anstaltsärzte beteiligte sich am Mord oder nahm diesen widerspruchslos hin.“ Protest oder gar Verweigerungen habe es nur in seltenen Fällen gegeben. Im Fall von Anne Hageroth waren es die Eltern, die Widerstand leisteten. Offenbar wollten sie ihr Kind zurück nach Hause holen, erklärten den Medizinern, Anne sei nicht behindert, lediglich traumatisiert. „Eltern sind sehr uneinsichtig“, notierte der behandelnde Arzt. Anne musste bleiben. Vermeintliche Todesursache nach vier Monaten: „Erschöpfungszustand und Kreislaufschwäche.“

Neben Kindern und Jugendlichen fielen dem „Euthanasie“-Erlass der Nationalsozialisten rund 5.800 erwachsene Patienten aus westfälischen Provinzialheilanstalten zum Opfer. Anders als minderjährige Patienten wie Anne Hagenroth wurden erwachsene Menschen nicht in den Heilanstalten selbst umgebracht, sondern in die Tötungsanstalt Hadamar in Hessen verlegt und dort vergast. Selektionskriterien, die über Leben und Tod entschieden, waren Krankheiten wie Schizophrenie, Epilepsie oder geistige Behinderung. „Ermordet wurden auch Menschen, die keine deutsche Staatsangehörigkeit besaßen, bereits seit mehreren Jahren in Heilanstalten lebten oder als sogenannte ‚kriminelle Geisteskranke‘ verwahrt wurden“, erklärt Thießen. „Aus den Heilanstalten von damals sind mittlerweile moderne LWL-Kliniken geworden, in denen psychisch kranke Menschen auf hohem fachlichem Niveau und mit großer Wertschätzung behandelt werden“, sagt LWL-Direktor Matthias Löb. „Dennoch wird die Ermordung unschuldiger Menschen für immer ein Teil unserer Geschichte bleiben.“ Es sei die Pflicht des Kommunalverbandes, auch in Zukunft dafür zu sorgen, dass Menschen wie Anne Hagenroth nicht vergessen werden.

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