Diktatur und Exil im wissenschaftlichen Diskurs

Vor 100 Jahren ereignete sich die Oktoberrevolution in Russland. Das Museum für russlanddeutsche Kulturgeschichte hat dies gemeinsam mit dem Institut für Migrationsforschung und Interkulturelle Studien (IMIS) der Universität Osnabrück sowie dem Bundesinstitut für Kultur und Geschichte der Deutschen im östlichen Europa (BKGE) zum Anlass genommen, um das Thema Diktaturerfahrungen unter dem Fokus der Migrationsgeschichte von Aussiedlern russlanddeutscher Herkunft zu behandeln.

Fragen aus dem Publikum an Dipl. Psychologen Alexander Frohn (2.v.l. auf dem Podium)

Fragen aus dem Publikum an Dipl. Psychologen Alexander Frohn (2.v.l. auf dem Podium)

Gefördert durch die Stiftung Aufarbeitung sowie der Bundeszentrale für politische Bildung, thematisierten führende Wissenschaftler aus den Forschungsbereichen der Migration von Russlanddeutschen sowie dem Netzwerk der Flüchtlingsforschung, die Erinnerungskultur der Zugewanderten.

Angesichts der etwa 2,4 Millionen Bundesbürger mit russlanddeutschem Migrationshintergrund stellt die kommunistische Repressionserfahrung einen erheblichen Teil gesamtdeutscher Erinnerung dar. Dabei wurde auf der Tagung herausgestellt, dass sich die Form der Aufarbeitung von Diktaturerfahrungen zunehmend verlagert. Über die Leitthemen Migration, Aufnahme und Erinnerung, sowie Verfolgung und deren Auswirkungen und Verarbeitungsstrategien der Einzelnen konnten Perspektiven aufgezeigt und Brücken zu der derzeitigen Situation der Geflüchteten in Deutschland geschlagen werden. So referierte u.a. der Diplom-Psychologe Alexander Frohn, der eine Interviewreihe mit psychotherapeutischen Experten, die russlanddeutsche Patienten behandeln, durchführte. Nach Frohn erlitten die Deutschen in Russland unter Stalin ab dem Jahr 1928 die wohl schlimmsten Kapitel der Entrechtung und Traumatisierung.

„Diese gemeinsame Entrechtung der zuvor in isolierten Kolonien lebenden Russlanddeutschen ließ eine verbindende, negative Identität aufkommen. Man war gemeinsam Opfer eines totalitären Staates geworden. […] Indem das Verschweigen im totalitären Staat ein Teil der Überlebensstrategie war und das Deutsch-Sein entwertet wurde, ergeben sich für die Familiengeschichte viele Aspekte, die tabuisiert oder möglicherweise nur bruchstückhaft vermittelt worden sind. Das Verstummen angesichts von leidvollen Erinnerungen gehört zur Geschichte der Russlanddeutschen. Das teilen sie aber auch mit anderen Opfern totalitärer Systeme. Die äußere Überanpassung, bis hin zum Aufgeben des deutschen Namens als Teil des Stigmas und der Abwertung, haben zur Selbstverleugnung beigetragen.“ So empfiehlt er eine unterrichtliche Aufklärung über die Geschichte der Russlanddeutschen und ihre Diskriminierung, was für die zweite und dritte Generation der Russlanddeutschen die Möglichkeit bieten würde „in offenen Kontakt mit der Aufnahmegesellschaft zu kommen und mehr Empathie für die Diskriminierungen und Migrationsmotive anderer Zuwanderer zu entwickeln“.

Durch das Aufgreifen der leidvollen Erfahrungen vieler Russlanddeutscher in einer vergleichenden Perspektive mit derjenigen der Geflüchteten, entsprach das Museum für russlanddeutsche Kulturgeschichte seinem Leitmotiv: „Völker, entsaget dem Hass – versöhnt euch, dienet dem Frieden – baut Brücken zueinander“ (Friedland-Gedächtnisstätte). Das Thema Diktaturerfahrung der Russlanddeutschen wird im kommenden Jahr über eine Sonderausstellung am Museum für russlanddeutsche Kulturgeschichte weiter vertieft. Im Dezember führt das Museum darüber hinaus ein interkulturelles Adventsfest mit Geflüchteten durch, um die unterschiedlichen Migrationsgeschichten weiterzugeben und die Verständigung zu vertiefen.